Relativ selbständig
4. November 2020, Jürg Messmer
Selbständig zu sein, das klappt in meinem Falle nie so ganz richtig. Vielleicht weil ich mich ja dauernd bewege, also selbst von “ständig" keine Rede sein kann. Und was "selbst" ist, na ja, da wird's mir auch schnell einmal schwindlig. Es kommt also nicht von ungefähr, wenn ich mit solchen Wörtern wie “selbstständig", das sich auch gleich zu "frei", oder "unabhängig" zu verdichten droht, meine arge Mühe habe. Aber das ist natürlich nur meine eigene persönliche Schwierigkeit. In dem Sinne bin ich voraussichtlich genau der selbständige und freie, und erst noch Mensch, den ich im selben Satz, im gleichen Atemzug verweigere.
Diese dünne Linie, die uns Menschen von den Anderen, das "Innen" vom "Aussen" zu trennen scheint, beschäftigt mich. "Es ist deine Schuld, nur du kannst das ändern". "Das ist dein Problem." Oder: "du machst das nur für dich", usw. stehen also zur Diskussion. Auch ob klar, dass Denken nur in mir, in meiner kleinen und autarken Demokratie, stattfindet. Die begrenzt durch meine Haut, mit einem Parlament zentral in meinem Gehirn, eine gemeinsame Stimme findet im Pressesprecher.
Als mir heute morgen eine Freundin per Textnachricht schrieb, "das Ganze" (mein letzter Text) sei schon etwas “crazy", "doch wenn es dir gut tut = wunderbar!”, war ich gleich wieder auf Hundert. Obwohl sie es offenbar keineswegs böse gemeint hatte, war ich gleich wieder beleidigt, und drohte an einer virtuellen Isolation zu ersticken. Als würde ich die Dinge nur für mich selber machen, und das sogar, ohne überhaupt zu wissen, wer oder was ich denn bin. Ich schreibe doch nicht, weil es mir gut tut, nicht ich. Wer das denkt, unterschätzt meine Zweifel und mein vielleicht gar unnützes Leiden! Ich schreibe wie ich atme, und mache doch einfach meine Arbeit! Das ist doch nicht nur für mich! Es ärgert mich, auch wenn ich verstehe, was voraussichtlich damit gemeint ist, doch das macht es ja noch schlimmer. Ja, dieses ewige, nur für dich, nur für mich. Das bist du, und das bin ich. Und das "ein Fels lebt nicht", "ein Blatt hat keine Gedanken", solche Gewissheiten nerven mich. Dies zeigt ja nur die Grenzenlosigkeit des Unwissens, ja auch meines.
Howgh, wieder einmal! Als hätte ich recht, und hätte gleich die umfassende Dimension des Universums erblickt und könnte in meinen fliegenden Gedanken sofort ein neues Grundgesetz schreiben, um es gleich für alle, und zu eines jeden Glücks, wirksam werden zu lassen. Unseren durch CO2 befeuerten Masseinheiten und Gewissheiten ist wirklich schwer beizukommen. Was lange geübt, wird zur Wirklichkeit. Wer immer nagelt, wird selber zum Nagel.
So würde ich nur zu gerne mal wieder Nägel mit Köpfen machen. Es gäbe genügend Arbeit. Doch die Hände sind mir immer noch gebunden. Wenigstens an diesem frühen Morgen noch. Doch punkto der geheimnisvollen Garage scheinen sich nun doch Tore zu öffnen, und vielleicht kann ich nächstens mal wieder mit meinen Händen und Muskeln anderes tun, als nur mit den Fingern von Taste zu Taste zu hasten, als ginge es um Leben und Tod. Dann kann ich wieder Abfallsäcke füllen und binden, manch Schweres und nicht mehr Gebrauchtes verschieben und neu ordnen, und nach Anweisung von Sinead das eine oder andere in der grossen Mulde verschwinden lassen. Dieser Müll wird dann rezykliert, das heisst, dass das meiste wohl in einem Landfill versenkt wird, um den Kreislauf wieder zu schliessen; um mit den Abfallprodukten unserer Weisheit wieder die Erde zu füllen, sie im Boden wirken zu lassen, in der Hoffnung, dass da nach tausenden von Jahren wieder etwas wird, das jemand gebrauchen kann. Na, ja, das beginnt wahrscheinlich sogar schneller. Bald schon sind Bakterien, Mäuse, Aasverwerter, Müllhaldendiebe oder so an der Arbeit.
Ob es mit diesem konkreten Projekt jetzt klappt, und ich wieder mal so richtig körperlich müde ins Bett sinken kann, das ist noch immer ungewiss. Das Messen von Zeiten, Gewichten, Längen und anderen Masseinheiten, wie Zuverlässigkeit oder Pünktlichkeit, sind hier in Irland etwas Glückssache, auch die Grenzen zwischen richtig und falsch etwas schwammig. Für einen Schweizer ungewohnt, der schon lange zivilisiert und in metrischen Einheiten zu messen weiss, also in klaren und absoluten Massen, und darum es natürlich auch besser weiss.
Es kommt ja nicht von Ungefähr, dass wir Schweizer zu den Weltmarktführern für die Beherrschung von Finanzflüssen, der öffentlichen Ordnung, und im präzisen Mischen von Beton sind. Wir sind ja so was von genau, und zuverlässig. Auch für das Zusammenleben und Zuordnen von Besitz, von Copyright, das gerechte Aufteilen der Welt, und der richtigen Formel der Menschlichkeit haben wir ja die einleuchtendsten Lösungen gefunden. Auch wenn es da mit dem Export noch nicht so ganz klappt, so wie wir es uns - wenigstens offiziell - wünschen würden. Doch das ist natürlich schwierig, denn würden wir die Demokratie wirklich erfolgreich exportieren, müssten wir vielleicht gleich selber unter dieser positiven Handelsbilanz leiden, und erkennen, dass die Folgen nicht ganz die sein könnten, die wir uns wünschen. Also besser nicht.
Die Iren sind jedoch keineswegs rückständig, auch wenn sie immer noch “Steine” (Stones) verwenden, um ihr Körpergewicht zu messen, oder mit irischen Acres den sorgfältig ummauerten und gepflegeten Umschwung ihres Bungalows grosszügig bestimmen, oder irische Siebenmeilenstiefel überziehen, um die Grenzen ihres Landsitzes abzuschreiten. Das kann dann leicht unerwartet lange dauern. Nicht wie in der Schweiz, wo selbst zu Fuss gehen meistens heisst, dass es etwa eine viertel Stunde dauert, um einen Kilometer zu wandern. Na ja, mehr oder weniger, aber relativ genau. Mindestens wissen dann alle gleich, von welcher Distanz und welchem Zeitrahmen man in etwa spricht.
Doch die Iren sind intelligenter und weiser, und gönnen sich den Raum, der erst durch bewusste Unschärfe und gepflegte Unklarheiten so richtig sich entfalten kann. Sie sind in diesem Sinne sehr selbständig. Auch eigensinnig im besten Sinne des Wortes. Auch ist es viel angenehmer, wenn du neun Steine wiegst, dass es immer noch unsicher ist, ob du jetzt anorektisch, sprich magersüchtig, also eher schlank und rank, oder gleich adipös, also fettleibig, etwas zu dick und darum schwerfällig bist. Denn was gibt es besseres, als aus weise mangelndem Wissen frei, nach Lust und Laune, zu tanzen, ohne dass die Bewegungsfreiheit durch allzu präzise Informationen beeinträchtigt wird.
Recycling oder Müll, das ist hier die Frage
Breaking News: Es ist nicht nur Wahltag in den USA, mit Steve Bannon am Irischen Radio, der Trumps heilsame und verkannte Arbeit anpreisen konnte; auch eine wichtige und lang ersehnte Entscheidung ist hier in Tullow gefallen: Sinead hat die Mulde bestellt! Sie wird morgen geliefert, und umfasst ganze neun Kubikmeter Laderaum. Also: die Arbeit kann beginnen, Nägel werden nur so um ihre Köpfe bangen, und ich werde vermutlich, zufrieden und angenehm müde, dann sprachlos online schweigen, und die Welt für eine Weile nicht mehr mit konfusen Gedanken überschwemmen. Gedanken, die ich ja nur aus eigenem Antrieb in meiner ganz privater Küche ausgehecke, also ganz unbeeinflusst und selbständig verbreite. Ich bin froh, dass ich wieder für eine Weile unselbständig sein kann, und mir Sinead wieder den Platz weist und sicherstellt, dass ich ja nichts falsches in der Grube versenke.
Heute morgen brennt nicht einmal das rote Lämpchen. Das Internet funktioniert nicht nur nicht, wie so oft, dieser fatale Misstand wird nicht einmal richtig angezeigt. Doch vielleicht ist ja Sinead bereits so früh am telefonieren, denn dann wird das Internet weise unterbrochen, denn man soll nicht zwei Sachen aufs Mal tun wollen. Ob das katholischer Umsicht oder protestantischer Besserwisserei zu verdanken ist, ist mir unklar.
Manchmal befürchte ich, dass alle meine Meinungen über Irland nur an diesem magischen Ort entstanden sind, und der irischen Realität im Allgemeinen in keiner Weise entsprechen. Als ich nämlich den Flug nach Guatemala buchte, klappte alles wie am Schnürchen, auch die Annulierung des ersten Flugversuches ging präzise über die Bühne. Und als ich den Termin für den Covid-19-Test in Dublin vereinbarte, und auch wieder verschob, dann funktionierte alles, einfach perfekt. Selbst in der Schweiz hätte es nie so präzis ablaufen können: "Wann möchten Sie testen?" "Dienstag, 1. Dezember 16.00." Zwei Minuten später die Antwort, klar strukturiert, deutlich und präzis: "Dienstag: 1. Dezember 2020 16:00." Abgemacht.
Nur eines weiss ich immer noch nicht genau: wo genau verlaufen denn die Linien zwischen dieser magischen Welt an der Shillelagh Road, hier in Tullow, und dem präzisen Räderwerk, das ich immer wieder vorfinde, und dessen Epizentrum ich in der Slaney Road in Dublin verorte. Diese unsichtbare Grenze bleibt mir ein Rätsel. Und wo die Grenzen zwischen Tullow und Dublin verschwinden, verschwinden sie auch zwischen mir und dir. Ich meine natürlich diesen Bildschirm, den grad vor meiner Nase.
PS: Auch wenn Albert Einstein eine Zeit lang im Schweizer Patentamt in Bern (Berichtigung) gearbeitet hatte, und sich vielleicht schon - inspiriert durch Patentrechtliche Fragen - so manche Gedanken zu der Relativität der Dinge gemacht hatte, so ist seine Relativitätstheorie hier in Irland sicher leichter am eigenen Leib zu erfahren, auch wenn sie allgemein schwer fassbar bleibt.
PS 2: Darminhalt, der (neben Internetverbindung und USA Wahlen) mein Schreiben beeinflusst hat: Pfannkuchen, gefüllt mit Chilisauce, Sauerrahm und Guacamole (Avocado), dazu Salat. Und nicht vergessen, das Glas Wein.
Mittwoch, 4, November 2020, Shillelagh Road. Euer unabhängiger Schriftsetzer.
Aktueller Update, 11. November 2020:
Die Mulde ist endlich gefüllt. Nach drei Jahren und drei Monaten haben wir es geschafft. Die Garage ist nun soweit von Müll befreit, dass man sich darin wieder bewegen kann. Die Katzen haben die Aufräumzeit überlebt, obwohl sie ein paar ideale Verstecke verloren haben. In der Zwischenzeit haben sie es sich jedoch auf einem alten Armsessel bequem gemacht, und scheinen damit auch zufrieden zu sein. Die Mulde ist noch nicht abtransportiert worden. Vielleicht warten sie ja noch darauf, dass sie den besessenen Aufräumer gleich mit entsorgen können.
Volle Mulde. Alles selber geschleppt. Ich war erstaunt, wie viel Energie ich noch habe.
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