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Verlassen und verlassen werden 

7. September 2020, Jürg Messmer

Es hat mich wieder zutiefst getroffen, als sie mir gestern ihre Enttäuschung, ja ihre Wut und ihr Unverständnis darüber, dass ich Familie und Freunde hatte verlassen können, so direkt ausgesprochen hatte. Und das, um nach Guatemala zu gehen und da an einem fremden Ort, bei anderen Menschen mein Glück zu finden.

Ich kann dieses Unverständnis verstehen. Mir ist es auch schon so ergangen. Und ich bin dankbar, dass sie mir dies so unverblümt geschrieben hat. Doch trotzdem möchte ich laut hinausschreien, ich habe niemanden verlassen! Ich gehe einfach weiter, treibe wie ein Blatt im Wind. Vielleicht bin und bleibe ich ein alter Nomade. Doch wer mich kennt, der weiss, dass ich immer wieder Anschluss gesucht habe, immer war ich alleine und auf der Suche nach Gemeinschaft. Doch die Lebensgemeinschaft als Einzelner unter Paaren ist keine einfache Sache. Ich bin unzählige Male nach Wanderwochenenden, Skitourenwochen oder einfachen Abendessen alleine nach Hause gegangen, habe mich allein ins Bett verkrochen, während andere sich in ihre Doppelzimmer zurückzogen. Ich weiss, wie sich Verlassen sein anfühlt.

Beziehungen bleiben mir ein Geheimnis, warum zwei Menschen zusammenbleiben scheint mir Glücksache, vielleicht auch eine Frage des Schicksals. Und es kann ja nicht einfach nur Paare geben, ich glaube das wäre schlicht zu langweilig. Wir alle sind Teil der Welt der Anderen. Auch wenn wir Einzelwesen zu sein scheinen, so bestehen wir doch nur im Spiegel, im Austausch mit den anderen. Dass ich im Herbst noch nach Guatemala ging und da diesen "Schub" hatte, der mein Leben so neu ordnete, war vielleicht zufällig. Doch im Obstgarten wäre ich vermutlich untergegangen. Ich musste es noch einmal wagen, das aufzugeben, was mich mehr als zwei Jahrzehnte lang stabil gehalten hat. Diese Stabilität wurde starr, ich musste die Zügel loslassen, meine Stärken nutzen, und nicht weiter auf meinen Schwächen herumreiten, doch diese Schwächen bleiben meine treusten Begleiter.

Doña Carmen (Xela, Guatemala) hat mir vor kurzem ein Gedicht über Freundschaft gesandt:

"... Benditos sean esos iluminados que nos llegan como un ángel, como colibrí en una flor, que dan alas a nuestros sueños y que, teniendo la libertad para irse, escogen quedarse a hacer nido.
La mayoría de las veces llamamos a estas personas 'Amigos'"

(Dt.: ... Gesegnet seien die Erleuchteten, die zu uns kommen wie ein Engel, wie ein Kolibri in einer Blume, die unseren Träumen Flügel verleihen und die, da sie die Freiheit haben, zu gehen, sich dafür entscheiden, zu bleiben und ein Nest zu bauen...  Die meiste Zeit nennen wir diese Menschen "Freunde".)

Ein schönes Gedicht, ich könnte es weitgehend unterschreiben, doch die ewige Frage bleibt, ob wir das Nest wählen, oder das Nest uns erwählt. Schwierig zu entscheiden, nicht?

Ich persönlich habe das verlassen fühlen auch zu schätzen gelernt. Es ist immer begleitet von einer tiefen Trauer, der Trauer ob dem Verlust von etwas Wertvollem, und verweist auf das Glück, das Glück des Lebens, des berühren und berührt werdens. Das geht nur, weil sich alles immer verändert.

PS: Als wir eben mit Sinead über dieses Thema gesprochen haben, ist mir wieder mal diese Frage in den Sinn gekommen, die der Poet's Circle aufgeworfen hat:
ist es die Vergangenheit, die wir ablegen müssen
oder beobachten wir das Weben alter Fäden?

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