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Kann es nicht mehr hören 

1. September 2020, Jürg Messmer

Es scheint, dass meine Ohren einfach meinem Gefühl folgen, das manchmal sagt, ich kann dieser Welt nicht mehr zuhören. Regeln, absurder geht es nicht!

Andere sehen es offensichtlich anders. Sind sie meine Freunde und Helfer, die mir zurufen, mich in Sicherheit zu bringen, mir Sorge zu tragen, doch ich höre ihnen nicht zu? Manchmal scheint es so, doch irgendwie kann ich oft einfach nicht anders, als die Ohren zuhalten, weil ich den Ratschlägen einfach nicht folgen kann. Und nun passen sich die Ohren wahrscheinlich langsam diesem Un-Willen an; vielleicht einem höheren Wille, den ich als solchen nicht erkennen, sondern nur erfahren - erleiden - kann. Einsicht ist nicht möglich, die Lage zu komplex.

Die ganze menschliche Welt scheint auf eigene Sicherheit ausgelegt, auf eine Art, die für mich nicht nachzuvollziehen ist. Immer wieder höre ich das Argument, dass wir eben vorsichtig sein müssten, weil die Krankenbetten knapp werden könnten. Das macht mich sprachlos. Als würde das Leben und der Tod nur mehr im gut gerüsteten Spital und in Form von Covid-19 verhandelt. Gestern sagte ich etwas verstört, bei Selbstmorden müsse man sich halt wegen der Anzahl Betten keine Sorgen machen. Das hat sich selbst in meinen Ohren schon etwas zynisch angehört.

Doch für die meisten Menschen scheinen die getroffenen Massnahmen eben zu passen, mindestens für jene, die gut erzogen, in guten Schulen auf dieses Verhalten vorbereitet worden sind, eine Zeitung lesen können, Radio hören oder TV schauen. Und die ein ruhiges Plätzchen haben, oder immer wieder finden, an dem sie die Zeit absitzen können - auch ich gehöre trotz Reisestatus dazu. Unterschiedliche Meinungen sind unerwünscht, einfach weil wieder einmal ein Notstand herrscht, und Unterschiedliches dabei den Vollzug der Dringlichkeit behindert. Doch leider ist in mir immer noch Unterschiedliches vorhanden, das Unterschiedliche ist jetzt in meiner Seele eingesperrt, findet keinen Überlauf, staut sich, und manchmal denke ich, dass ich langsam zu Grunde gehe.

Vielleicht ist das gut so. Es scheint, ich bin für diese Welt nicht gerüstet. Vielleicht bin ich bereits verknöchert geboren, mein Geist unflexibel, zu viel Moral und Ethik, entstanden in privilegiertem Leben, begleitet von lästigen Widersprüchen - oder ähnlich Nutzlosem. Sogar der Gedanke, dass ich denken kann und sollte gleicht eher einem morschen osteoporösen Knochengebilde, dass brechen und zu Staub zerfallen muss. Je mehr ich das bekämpfe, desto schneller der Prozess.

Warum ich weiterhin mich dagegen wehre, ist mir unklar. Bin ich ein Winkelried, ein verirrter Held, der sich entschieden hat, alle Speere auf sich zu lenken, der den Punkt überschritten hat, an dem er zurück kann, dessen ganzes Leben auf diesen einen Punkt ausgerichtet ist?

Covid-19, Covid-19, Social Distancing, jede Sekunde auf allen Kanälen. Neuestens wird in einem Kommentar im New Scientist die Distanz auch für Katzen und Hunde empfohlen, und wir scheinen nicht mehr weit davon entfernt, dass mein Vorschlag, jeder einzelnen Körperzelle eine Maske zu verpassen, keine absurde mehr scheint. Dann müsste auch die Hautzelle am Rand des Geschehens nicht mehr einfach sich externen Einflüssen aussetzen, weder der Unbill eines feindlichen Aussen, noch der Ungeduld der Zellen von Innen, die ihren Aussichtsplatz einnehmen möchten. Endlich wären diese masken-geschützten Zellen davon befreit, dem Wohl des Wesens - zum Beispiel Mensch Jürg, dessen Teil sie sind - zu dienen. Und “ich” müsste mich nicht mehr als autoritärer Diktator dieses Zellreichs aufführen und dürfte endlich verschwinden, ohne mir Sorgen machen zu müssen.

Mit solchen Gedanken bin ich letzte Nacht aus einem Albtraum aufgewacht. Als wir am Abend bei Regen im Wohnzimmer sassen, und noch etwas plauderten, konnte ich fast gar nichts mehr verstehen. Der Regen, gemischt mit isoliertem Raumempfinden und leise dahin geplauderten irischen Worten, die sich kaum von all den anderen Geräuschen unterschieden. Niemand sprach zu mir direkt, und auch ich sagte nicht, sprechen wir doch richtig zusammen, oder lassen wir es bleiben. Ich habe weder das Recht noch den Mut dazu. Doch alles Beiläufige scheine ich nicht mehr zu hören. Vielleicht einfach, weil ich immer von überall her wichtige Botschaften erwarte, Worte nicht als Wind, als Geruch, als Berührung sehen kann, sondern immer den digitalen Wert, die eigentliche Botschaft, erwarte. Warum mein Gehör so justiert ist, das weiss ich nicht. Ich bin also aufgewacht, in Panik, nichts mehr hören zu können, ganz alleine zu sein, und verzweifelte.

Erst als ich aufstand, um eine Zigarette zu rauchen, kam ich wieder ins Lot, ein Gleichgewicht des sich Hingeben an den nächsten blinden Schritt, im Dunklen. Weder vorwärts noch rückwärts, im Nichts. Einfach Bewegung.

Wieder einmal denke ich, dass ich vielleicht erst jetzt erwache und den Menschen und die Welt so sehe wie sie sind. Immer hatte ich höchste Ideale gehabt, alles geglaubt doch gleichzeitig nichts für mich anwenden können. Ich kann das alles nicht mehr hören. Doch ich möchte hören, einfach nicht mehr so, wie ich bisher gehört habe. Doch wie soll das gehen? Da kommt mir nur dies in den Sinn: Hör mich, und ich höre. Sieh mich, und ich sehe. Lieb mich, und ich liebe.

"Listen to the Wind" (Karlene)

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