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Kein Talent zum Stillsitzen 

6. Juli 2020, Jürg Messmer

Weiss Gott, warum ich dieses Talent nicht habe. Manchmal kann ich es sogar irgendwie, doch selbst dann scheint es  eher ein Geschenk zu sein, ohne dass ich mich bemühen müsste. Das schätze ich: ich bemühe mich nicht sehr gerne. Aus meiner Erfahrung ist es aussichtslos mein Bemühen. Zu widersprüchlich und vielfältig meine Antriebe und Gründe. Vermutlich bin ich einfach das verwöhnte Kind, dass das Leben geschenkt haben will. Wenn ich stillsitzen muss, weil ich nichts zu tun habe, dann darf ich ja trotzdem wieder aufstehen, einfach zum Beispiel weil eine Zigarette mich ruft, die geraucht werden will. Denn dazu sind diese ja da, oder nicht? Sie werden produziert, und wollen auch konsumiert werden. Na, ja, lasst uns nicht darüber streiten. Wenigstens nicht jetzt.

Ich sitze in meinem Zimmer im Ballyderrin B&B in Tullow, nur ein paar Hundert Schritte weit weg vom Haus von Sinead. Hier habe ich meine Ruhe, denn nicht einmal den Zimmerservice muss ich befürchten, denn davon sind sie befreit. Das Corona Virus verlangt nach wenig Kontakt, es kann allem dienen, ist sehr vielseitig, allzeit bereit.

Mit Sinead nimmt das Leben seinen Lauf. Es freut mich, und erstaunt mich nicht, dass wir schnell schon fast vergessen haben, dass dies spezielle Zeiten sind, und wir auf Distanz gehen müssten. Wir machen das zwar immer wieder, um der Vorsicht genüge zu tun. Auch ihr Mutter erinnert uns daran. Doch schaffen tun wir es nicht immer. Nein, es ist nicht so, dass wir uns immer wieder umarmen würden oder Viren austauschen wollten, doch wir essen zusammen, wir trinken und rauchen, gehen spazieren, schwatzen und lachen (Aerosole!). Wir inspizieren die Arbeit, die auf mich wartet. Ein Stress für Sinead, wie sie manchmal sagt. Ja, das erinnert mich an Anna, die ich mit meiner Arbeitslust auch etwas erschreckt hatte. Sie hasste es manchmal, doch letztlich war sie ja ganz froh, dass wir gewisse Dinge angepackt hatten. Es gibt einfach auch die “sanfte” Gewalt, und die ist gar nicht so schlecht. Sie ist, was sie ist.

Als erstes erwartet mich hier: Ein altes schmiedeeisernes Gartentor, dass gereinigt, entrostet und gestrichen werden will. Das erinnert mich an meine Malerarbeiten im Monte Brè, als ich mit meiner damaligen Freundin Katrin - vor einigen Jahrzehnten - alle dreissig Türen und Läden abgelaugt, geschliffen und gestrichen, und die Balkongeländer und Gartentür entrostet und erneuert hatte, daran, dass Tante Esthi sich aufgeregt hatte, weil ich dafür Geld verrechnet hatte, wenn auch nur einen kleinern Bruchteil dessen, was eine externe Vergabe der Arbeit gekostet hätte. Sehr wenig also, doch zu viel für sie. Warum ich das nicht zu Gottes Lohn gemacht hatte? Einfach weil ich damals Student war, kein Geld hatte, und vielleicht einfach auch Ferien und Arbeit hatte verbinden wollen. Ja, auch damals hatte es sich so angefühlt, als hätte ich jemanden zum Glück gezwungen. Mami hatte es natürlich geliebt, dass ich es machte, und damit auch etwas im Schoss der Familie verblieben war. Auch mir war das recht. Zwei Fliegen auf einen Schlag: etwas recht machen, und geniessen zur gleichen Zeit, danach habe ich ja immer getrachtet. Vielleicht hätte ich ja nicht das Recht dazu, doch ich hoffe, dass es möglich ist, und mir auch verziehen wird.

In der Zwischenzeit habe ich mich darauf eingestellt, dass diese Reise eine längere werden könnte und ich einen langen Atem brauche. Ich bin froh, dass ich hier bin, unterwegs, nicht mehr in der Schweiz. Nicht, dass ich meine Lieben nicht gerne sehen und in die Arme schliessen würde. Doch ich bin freier hier, inspirierter. Ich muss nicht immer all die schönen Sachen und Vorteile sehen, die meine “Heimat” mir bietet, und befürchten, dass ich eh alles falsch mache, oder den Vorwurf hören, dass ich die Schweiz und meine Wurzeln nicht schätze. Ich schätze sie sehr wohl, kann jedoch auch auf Rosafarbe ab und zu verzichten. Die Schweiz habe ich schon immer als Fleck auf dieser Erde gesehen und nicht als die gesamte Welt. Ich wollte immer ein Erdenbürger sein, einer der weiss, dass es nur diese eine gibt und nicht noch viele andere. Ich habe die Beschränkung einfach gerne. Ich will mich in einem Rahmen bewegen können, und nicht alles auf alle Seiten offen wissen. Auch wenn manche das vielleicht von mir denken. Es ist natürlich widersprüchlich, denn ich habe schon immer gerne auch den Foifer und das Weggli gehabt. Das könne man nicht, hatte meine Mutter gesagt. Doch ja, man kann, doch weiss selbst ich, dass der Foifer und das Weggli nicht gleich (!=) Foifer + Weggli ist. Es gibt offensichtlich nur ein Leben, weder ein doppeltes noch ein halbes. Und dieses kann man leben. So denke ich :-)

Dass ich nie eine “funktionierende” Beziehung gehabt habe, hat mich mein Leben lang beschäftigt. Lange dachte ich, dass das das einzig Wichtige ist, Basis von Entwicklung und vom Erwachsen, vom Mensch werden. Notgedrungenermassen musste ich dann merken, dass das irgendwie für mich nicht zu gelten scheint. Auch wenn ich es manchmal immer noch hoffe. Wer weiss, ich bin ja wirklich ein Spätzünder, obwohl ich ja auch denke, dass ich immer auf meine Art gezündet habe, immer wieder mit dem Feuer gespielt habe, weil ich es wissen wollte. Klar dabei kann man sich verbrennen.

Ich hoffe, ihr verzeiht mir, dass ich eben nicht still sitzen kann. Auch nicht meinen Mund halten, denn auch der macht, was er will. Hier darf ich weder ein Buch ausleihen, noch eine Zeitung lesen. Denn ich könne als potentiell gefährlicher Selbstisolierer jemanden anstecken. Das Zimmer wird beim Gästewechsel total desinfiziert. Auch wenn es zur Zeit keine solchen Wechsel gibt. Nicht von Hand gereinigt, aber ausgesprüht und total desinfiziert. Da kommen mir die Gaskammern in den Sinn, die nach erledigter Aufgabe wieder gereinigt wurden, so dass neue Gäste sie unbelastet wieder betreten konnten.

Ich weiss, das sind wilde Gedanken. Doch sie kommen einfach. Sind Besucher, die offene Türen betreten, ohne dass ich es ihnen speziell erlaube, oder verbieten könnte. Die Ganze Welt sei - Gott sei dank - betroffen, sagt Pamela, meine Gastgeberin. Wir würden alle im selben Boot sitzen, denselben Regeln folgen. Nein, wir müssen nicht mehr denken. Doch viel Talent dazu haben wir ja noch nie besessen, wir sind Weltmeister im wieder verwerten von gebrauchten Gedanken, noch einfacher heute mit copy & paste, müssen uns nicht die Mühe machen, sie neu zusammen zu setzen, und dabei Fehler machen. Müssen auch keine Verantwortung übernehmen, denn die Gedanken sind absolut, sie lassen uns keinen Spielraum, allzu gefährlich dieser Raum. Ungenaue Gefühle sind durch klare Zahlen ersetzt worden. Doch das ist natürlich nur die offizielle Sicht, die wir fast schon lustvoll teilen. Unser tägliches Leben ist weiterhin mit “Fehlern” bestückt, mit Ausreissern, die sich nicht an die Regeln halten. Im B&B sind all diese Regeln angesagt, doch wenn wir darüber sprechen, was ich zum Frühstück möchte, dann kommt sie mir ganz nahe, ich kann fast ihren Atem spüren. Doch diese Ausnahmen sind so weitverbreitet, dass man gleich schon von der Regel sprechen könnte, nicht von der, die die Regel bestätigt. Zum Glück gibts die Ausnahme. Ich hoff es ist nicht die neue Regel.

Vivian schreibt mir, dass das Leben halt wie eine Rose sei, sehr schön, doch mit Stacheln bestückt. Und ich antworte ihr, dass es auch Blumen ohne Stacheln gebe. Doch vielleicht werden auch die bald Masken tragen müssen, wer weiss, ob nicht auch sie Krankheiten ausströmen und weitergeben. Denn wir Menschen machen uns ja auf den Weg, dass wir ganz frei von unserer Umwelt sind. Das Leben ganz unter unserer Kontrolle heben. Wie Krishnamurti sagen würde, der Kontrollierende ist das Kontrollierte. Du bist die Welt, die Welt bist du. Bin ich.

Ein Moment halte ich inne.

Gleich gehe ich weiter, Sinead holt mich ab. Sie hat kein Auto. Wir laufen ins Dorf, zu Stanley, zum Einkauf, damit ich meine Arbeit aufnehmen kann. Das Gartentor ist an der Reihe. Es scheint nicht, dass es heute noch viel regnen wird, und ich vielleicht nur stillsitzen muss.

PS: I entirely agree: "Sitting still is hard to do" (Teacher singing with kids?)

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